Honigmond (c) dege 2024

VIELE KLEINE HONIGMONDE

Georg Dekas
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15. Juli 2024

Kollektiv vor Individuum. Was eine kleine Meldung aus 1952 alles erzählt.

Tisens. (Heiraten.) Die Anna des Tönlschustertoni nahm einen Kleinbauern in der Gegend von Lana und die Meßner Kathl den Egger Sepp in Gfrill. Der Karneiler Luis von Grissian, Hausbesitzer in Prissian, erwählte sich die 17jährige Martha Mair des Steinmann Hans und der Steckgütl Berta. Wir wünschen allen, daß die Honigmonde ihnen zeitlebens andauern.

Aus: Volksbote, Donnerstag, den 25. September 1952, Seite 10, Quelle digital.tessmann.it

Heiraten ging früher offensichtlich ruckzuck. Und ruckzuck auch die Meldung dazu in der Zeitung. Kollektive Abfertigung mitsamt herzlichen Wünschen statt (wei heute) narzisstisch-schwülstige Farbfoto-Saga. Und welche sprachlichen Schätze erst in diesen drei Zeilen verborgen sind! Ihnen ist dieser Beitrag gewidmet.

Da ist gleich am Beginn die „Anna des Tönlschustertoni“: eine dreifache Identifikation. Einmal die Anna „des“ nach dem bewährten Muster von -son, -witsch, -i, sodann der Toni nicht einfach Vater, sondern wiederum Sohn des „Tönl“ (ebenfalls Anton) beide ihres Zeichens Schuster. Als Kontrast zu dieser Überidentifikation steht der wahrscheinlich bitterarme und deshalb namenlose „Kleinbauer“, den sich die Anna „nimmt“! Nicht schlecht auch die „Meßner Kathl“, die sich den Egger Sepp schnappt. Klingt doch emanzipiert, oder? Bemerkenswert hier die Voranstellung des Nachnamens, so auch beim „Karneiler Luis“ und ferneren. Dabei ist zu unterscheiden: Zum Teil handelt es sich um bürgerlich eingetragene Schreibnamen wie Mair, Egger, vielleicht auch Meßner, zum Teil um Zuordnungs- oder Höfenamen. Karneiler, Steckgütl sind eindeutige Höfenamen, Meßner und Steinmann könnten beides sein.

Bemerkenswert, dass  der Hausbesitzer seine Gattin „erwählt“. Da werden beide Eltern namentlich genannt, der Steinmann Hans und die Steckgütl Berta. Diese gendermäßig würdige Hervorhebung der Namen ist offensichtlich mit dem Status als Besitzende verbunden, denn beim Kleinbauern „in der Gegend von Lana“ spielen Namen und Orte keine Rolle. Und die erwählte Martha Mair ist nicht nur 17 Jahre jung (was heutzutage in den Zeitungen fast schon unter Sex mit Minderjährigen geführt wird), sondern sie wird auch als einzige mit ihrem Vornamen vor dem Schreibnamen angeführt.

Die Anordnung von Vor- und Nachnamen ist ein aussagekräftiges Kulturgut.

Die Italiener stellen den Nachnamen voran, wenn es um meldeamtliche Belange (Rossi Paolo) oder um Gerichtschronik geht (il Rossi). In Tirol hingegen drückt die Voranstellung des Nachnamens Siedlungsidentität, Herkunft und Zugehörigkeit zum Clan aus: Karneil ist der Hof und Ort, der ist wichtig, der Luis gehört dazu, kommt also an zweiter Stelle.

Im Zuge der Individualisierung, d.h. dem Voranschreiten der aufklärerisch-bürgerlichen Weltanschauung, erobert sich das Individuum den Platz an der Sonne. Folglich: Martha Mair. So wie im deutschen Kulturraum mittlerweile üblich. Der Nachnahme hat keine Herkunftsableitung mehr, keine Zugehörigkeit mit impliziter Besitzangabe wie diese „des Tönlschustertoni“, sondern einfach Mair (wie hunderte andere). Somit spiegelt die Kleinmeldung im Volksboten auch den kulturellen Übergang von der mittelalterlich-bäuerlichen zur bürgerlich-besitzenden Welt wieder.

Nachbemerkung

Sprachlexika und Forscher geben die Auskunft, dass Schreibnamen erst im Zuge der Alfabetisierung und Einrichtung von Meldeämtern und Grundbüchern eingeführt wurden (Stichwort Maria Theresia). Daraus folgt aber nicht, dass es früher nur die einfachen Rufnamen “Hans“ etc. gegeben hätte, wie man mancherorts lesen kann. Im Gegenteil muss angenommen werden, dass der Sippen- oder Siedlungsname immer schon eine viel stärkere und vorherrschende Bedeutung hatte als der individuelle Name. Das wird bei den altrömischen Eigennamen so schön deutlich: Die nannten ihre Kinder oft einfach nur nach der Reihenfolge der Geburt erster, zweiter und so fort, während der Sippenname das entscheidende Namenselement war. Das heißt Kollektiv geht vor Individuum, Familie vor Person, Herkunft vor Ich.

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