Putin wie Hitler? Sind Pazifisten Träumer und Deppen? Antworten auf ein Kriegspamphlet.
In einer Südtiroler Web-Zeitung stellt sich Kolumnist Wolfgang Mayr gegen italienische Friedensrufe im Ukraine-Krieg: „Keine Waffen an die Ukraine und schon herrscht Frieden?“ spottet er im Vorspann. Nun, auf diesem Niveau mag man auf den „zornigen“ Mann gar nicht eingehen. Auf Frieden ist bei ihm ohnehin wenig zu hoffen – hat er doch im Corona-Lockdown gefordert, Ungeimpfte sollten im Fall ärztlicher Behandlung abgewiesen und zurückgestellt werden (Triage). Gedankenverbreitung dieser Art darf nicht unwidersprochen bleiben. Mayr befürwortet die Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine. Er sagt, das Land wurde vom neuen Hitler angegriffen, es sei Kriegsopfer und müsse sich wehren. Den Nachweis führt der Autor anhand rhetorischer Fragen (auf die noch einzugehen ist), dann ruft er drei höchst parteiische „Testimonials“ auf und gibt eine originelle Lesart des Bosnien-Krieges zum Besten.
Putin zur Inkarnation des Bösen machen
Der erste Kronzeuge gegen die Pazifisten ist ein US-‚Berater‘ und Joe-Biden-Mann. Er bezeichnet Parteien, die gegen Waffenlieferungen sind, als 5. Kolonne Putins, also Spione und Kollaborateure Russlands. Dazu führt der Amerikaner angebliche Finanzierungen Moskaus an diese Parteien ins Feld. Sogar wenn das stimmen würde, wäre es ein Nichts gegenüber den Bergen von Dollars, mit denen die USA jeden Tag die halbe Welt kaufen. Nützt die Bestechung zu wenig, gibt’s Putsch oder Krieg. Allseits bekannt und bewiesen. Sodann spricht ein Herr Roman Schwarzman aus Odessa, der Putin und Hitler Zwillingsbrüder nennt: „Der eine hat sechs Millionen Juden vernichtet. Der andere will 40 Millionen Ukrainer vernichten“. Über die maßlose Unterstellung hinaus – ist das jetzt eine Verharmlosung des Nationalsozialismus oder eine Relativierung der Shoah oder beides? Den mRNA-Gegnern verwehrt, den Ukraine-Verteidigern zugestanden? Historische Analogien wie diese oder wie Putin-Angreifer und Hitler-Angreifer mögen suggestiv sein, aber sie haben kurze Beine, die denen der Lügen verdammt ähnlich sind. Im Corona-Fieber haben die Mayrs dieser Republik keine Hemmungen gehabt, jeden Juden- und Nazi-Vergleich empört zu verdammen – warum sollte das jetzt auf einmal erlaubt und gut sein? Es scheint der Zweck die Mittel zu heiligen, denn Putin muss zur Inkarnation des Bösen gemacht werden. Schließlich tritt ein gewisser Kurkow auf. Auch dieser „Zeuge“ steht fest auf der Seite Atlantiens: mit den Waffenlieferungen an die Ukraine könne es nicht schnell genug gehen.
Buy Now Pay Later
Eingerahmt von diesen durchsichtig einseitigen Stimmen macht Kolumnist Mayr eine historische Parallele zum Bosnienkrieg auf. Damals hätten die Pazifisten im Westen den Bosniern Waffen verweigert, und das Resultat war das Massaker von Srebrenitscha. Wie um zu sagen: Russen und Serben, alles die gleichen Hundsfotte und die Pazifisten sind nützliche Idioten. Das ist eine törichte Vereinfachung der Dinge. Wer in dem verzwickten Krieg in der Nachfolge des zerfallenen Tito-Jugoslawiens tiefer gräbt, wird nicht umhin kommen, das anders zu sehen. Doch in einer Hinsicht hat das blinde Huhn dennoch ein Korn gefunden. Ja, der Ukraine-Krieg ist wie der Bosnien-Krieg ein offensichtlich zwangsläufiger Nachfolgekrieg. Der letztere aus dem Zerfall Tito-Jugoslawiens, der erstere aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor über dreißig Jahren. Alle haben sich gewundert, dass 1989 die Berliner Mauer fiel, ohne dass ein einziger Schuss abgegeben worden wäre. Nun, es ging damals nach USA-Mode: ‚buy now, pay later‘. Bezahlt wird jetzt. Mit Blut und Elend.
Kämpfen lassen, anstatt es selber zu tun
Deshalb können jetzt und heute einfache Schwarz-Weiß- Scherenschnitte oder Gut/Böse-Scheidungen der Sache nicht gerecht werden. Wo keine Gerechtigkeit, da kein Friede. Gerechtigkeit aber beginnt mit der Unvoreingenommenheit des Richters. Wir alle hier im Westen verfolgen den bewaffneten Konflikt in der Ukraine mit Schaudern. Alle reden sie davon, dass unsere Werte, unsere Freiheit dort verteidigt werden. Aber keiner von uns will dorthin und für die Ukraine und für unsere Werte sterben. Wir lassen die Ukrainer für uns sterben. Wer Waffen liefert, der lässt kämpfen, anstatt es selber zu tun: das ist keine moralisch sehr hoch stehende Einstellung. Sicher, wer nur platten Pazifismus predigt, ist kurzsichtig und blauäugig dazu. Aber um diese Puppenheim-Haltung geht es bei diesem Konflikt nun wirklich nicht.
Moral ist ein Kriegsinstrument
Es herrscht Krieg in Osteuropa. Krieg. Mit allen seinen Greueln und Auswirkungen. Die Kriegführenden sind keine Theatergestalten. Krieg ist eine fürchterliche Tatsache und kein Gegenstand moralischer Zeitungsdebatte. Und wenn moralisiert wird, dann steht die Moral im Lehrbuch der Propaganda. Moral ist ein Kriegsinstrument, und das Putin-Hitler-Argument ist gemacht, um westliche Augen zu blenden und gegen Russland einzuschwören. Doch jeder kann es sehen, der es sehen will: Putin ist nicht Hitler und nicht der Teufel, und die Stimmen, die ein Ende der heimlichen westlichen Kriegstreiberei fordern, sind keine Chamberlains in München, sondern Realisten. Und die Klitschkos und Selenskis aus Kiew sind nicht die Opfer, die sie vorgeben zu sein. Sie sagen es und sie wollen es: Russland besiegen. Mit allen Mitteln.
Kühle Antworten auf heiße Rhetorik
So sicher ist sich Kolumnist Wolfgang Mayr, dass er glaubt, Tatsachen mit rhetorischen Fragen voraussetzen zu können. Hier die kühlen Antworten.
„Führt die Ukraine Krieg?“
Ja, sie führt Krieg. Seit 2014 gegen die abtrünnigen Provinzen im eigenen Staat, und seit 24. Februar 2022 gegen einen viel größeren Widersacher – gegen eine Supermacht, die sich erlaubt, die ureigenen Interessen zu vertreten.
„Verüben ukrainische Soldaten Kriegsverbrechen?“
Ja, sie verüben Kriegsverbrechen und ihre Chefs erfinden sogar welche. Das nennt man mediale Kriegführung.
„Annektierte die Ukraine fremde Gebiete?“
Nein, aber sie verweigert das Selbstbestimmungsrecht, sabotiert mit Waffengewalt Kompromisslösungen zur Verselbständigung ihrer Ostgebiete, die nicht zu diesem Staat gehören wollen, und sie verweigert beharrlich Verhandlungsangebote des Kriegsgegners.
„Was passiert mit den besetzten ukrainischen Gebieten? Sie werden wohl russisch bleiben, weil für den Frieden die Ukraine Kompromisse eingehen muss.“
Ja, für den Frieden muss man Kompromisse eingehen. Die Forderungen Russlands sind klar: Die Krim ist seit immer russisch, Lugansk und Donetsk wollen russisch sein, die Ukraine soll militärisch neutral sein und darf kein NATO-Mitglied werden. Diese Forderungen werden vom Westen mit einer schmutzigen Kriegführung beantwortet. Von woher es wahrscheinlich ist, dass die Eskalation dieses Krieges vorprogrammiert ist und es bei den ursprünglichen Forderungen Putins nicht bleiben muss.
„Hätten die antifaschistischen Widerstandskämpfer in den 1940er Jahren statt auf Schwarzhemden und deutsche Soldaten zu schießen, mit Friedensfahnen demonstrieren sollen?“
Die überflüssigste Rhetorik in Mayrs Postille. Gewiss nicht. Es hätte genügt, wenn neun Zehntel dieser ‚Widerstandskämpfer‘ vorher nicht verblendet den Arm zum Saluto Romano/Sieg Heil ausgestreckt hätten.
Stärke braucht keinen Stellvertreter-Krieg
Es mehr als vernünftig und höchst an der Zeit, echte Verhandlungen mit Russland aufzunehmen. Der Westen kann seine Wehrbereitschaft mehr als genug ins Feld werfen, indem er die bestehende und – wie jüngst in Skandinavien – hinzu gewonnenen Mitglieder ermächtigt, sich mit allen Mitteln zu verteidigen, „jeden Zentimeter“, wie es heißt. Das sollte Abschreckung und Verhandlungsgewicht genug sein. Einen schmutzigen Stellvertreter-Krieg, dessen Opfer die Völker der Ukraine und Russlands sind, so wie es in den 1990ern die Völker des Balkan waren, so einen Krieg wollen und brauchen wir nicht.