Kann Südtirol Staat? Idealerweise Ja, realiter Nein. Was ist Sache? Was ist Traum?
Das heutige Südtirol hat sich unter dem Kriegsversehrten Magnago, den Freiheitshelden der Feuernacht und dem Barockfürsten Durnwalder erfolgreich eine eigene Identität zulegen können (in dieser Hinsicht vergleichbar mit der gelungenen Nationenbildung Österreichs unter Bruno Kreisky). Die Blütezeit dieses Südtirol fällt grob gesagt in die «7×7 fetten Jahre» vom Zweiten Autonomiestatut 1972 bis zum Lockdown 2020. Dieses halbe Jahrhundert verleitet zu einer optimistischen Einschätzung der Möglichkeiten. Doch wenn man genauer hinschaut, steht ein verletzliches, gar unreifes politisches Subjekt da.
Humus für Nation-Building fehlt
Nicht vergessen, dieses ‚Südtirol‘ ist kein organisch gewachsenes Land. Es ähnelt mehr einer italienischen Verwaltungseinheit mit temporären Sonderrechten. In der Bevölkerung fehlt der Humus für Nation-Building. Von den mittlerweile 50.000 ausländischen Mitbürgern der 530.000 Einwohner Südtirols fühlt sich selten jemand als Südtiroler. Das gleiche Bild bei den 110.000 Italienern, sogar bei vielen von jenen, die bald seit 100 Jahren hier ansässig sind. Die leben alle in Italia, nicht in Südtirol. Runden wir großzügig auf mit den Apolitischen, dann bleiben 300.000 potentielle Fans oder ‚Separatisten’ für eine eigene Staatsgründung übrig. Das sind traditionsverbundene Südtiroler deutscher, ladinischer und vereinzelt auch italienischer Muttersprache, die Alteingesessenen, denen der meiste Besitz gehört. Doch auch hier hat eine generationsbedingte Loslösung eingesetzt. Eine wachsende urbane Schicht fühlt sich als Weltbürger, nicht wenige bekunden, stolze, wenn auch deutschsprachige, Italiener zu sein und die Ladiner experimentieren mit ihrer eigenen Identität. Der Bezug zum Norden schwindet. Die Deutschen ‚von draußen‘ werden allgemein als Melkkühe angesehen und die Österreicher verächtlich gemacht, zur Schweiz hat man Null Bezug. Die einstigen «Vaterländer» nennt man jetzt «Ausland». Obendrein kommt ein sonderbarer Dualismus hinzu: Die einen leben in «Alto Adige», die anderen in «Südtirol». Dazwischen ein Abgrund. Das sind die Realitäten.
«Vorteile» allein sind nicht genug
Eine Initiative mit dem unglücklichen Namen «Noiland» bewirbt nun die Idee eines eigenen Staates Südtirol als Mitglied der EU. In einem Buch werden die Vorteile dieser Konstruktion dargelegt («Kann Südtirol Staat?»). Ähnlich hat schon vor Jahren eine lokale Partei mit recht beeindruckenden Zahlen um die Rückkehr in die Republik Österreich geworben. Trotzdem haben die «Vorteile» damals nicht gestochen und werden es wahrscheinlich wieder nicht tun. Dazu ist eben die Bewusstseinslage im angestrebten «Staat Südtirol» zu fragmentiert. Es ist wie ein Puzzle, das einfach nicht zusammen passen will. Außerdem sind Vorteile materieller Natur wie Gewinne. Die können heute hoch sein und schon morgen in Verluste umschlagen. Oder in Dürre, wie der Wassernotstand gerade zeigt. Diese Art der Beweisführung ist leider kein fester Baugrund für die politische Selbständigkeit.
Utopien nicht unterschätzen
Eine EU-Republik «Südtirol» ist deshalb gewiss noch kein Hirngespinst. Auch wenn die Idee vorschnell als «Utopie» abgetan wird, sollte man die Kraft von «Utopien» nie unterschätzen. Nur dauern sie etwa länger und man muss oft tiefer graben, oder länger über dem Puzzle sitzen. Vielleicht kann der folgende Denkbeitrag anregen.
Etwas tiefer gegraben…
Die Provinz Bozen oder Südtirol, wie man das Gebiet seit 1945 nennt, ist nur eines von vier Teilen des kulturell seit bald 1000 Jahren bestehenden Landes Tirol. Und genau genommen auch nur ein TEIL des alten Südtirols, das in der kaiserlich österreichischen Lesart vom Alpenhauptkamm bis zum Gardasee reicht. Dieses Südtirol ist sehr wohl ein historisches und kulturell stabil gewachsenes Subjekt, das es verdienen würde, eine Sonderstellung als Bindeglied zwischen den deutschen und italienischen Ländern einzunehmen, nachdem eine Wiedervereinigung mit dem österreichischen Tirol nun wirklich ins Reich der Unmöglichkeit fällt.
Zurück in die Zukunft
Um dieses Subjekt wiederzubeleben, müsste sich das heutige Südtirol mit dem heutigen Trentino zusammentun. Das wäre eine glatte Kehrtwendung in der politischen Doktrin Bozens seit 1956, als in der Kundgebung von Sigmundskron das ‚Los von Trient‘ gefordert und später erreicht wurde. Noch heute sieht Bozen die Überreste des «Regionalrates» als «leere Schachtel», die man gerne loswerden würde. Stellen wir uns stattdessen vor, dass die zwei Landtage zu einem fusionieren würden. Und EU-Kollege Italien noch ein paar wesentliche Staatsaufgaben als Mitgift für diese Hochzeit spendieren wollte. Dann wären, nebenbei, die alten Ideen von Alcide Degasperi verwirklicht. Mit dem Unterschied, dass die dann in diesem «Staat» entstehende italienische Sprachmehrheit nicht mehr als politische «Majorisierung» gegen deutsche Interessen gesehen werden müsste. Was zunächst wie ein Rückschritt in die Geschichte scheint, könnte ein großer Schritt in eine europäische Zukunft sein. Denn die traditionellen Südtiroler müssen sich heute doch eingestehen: Wir brauchen die vom alten Irredentismus halbwegs geheilten Trentiner und dazu noch unsere autonomistisch gesinnten Freunde in Italien, um das vom Faschismus eingepflanzte Bozner Übel eines geradezu insulären Nationalchauvinismus überwinden zu können. Erst wenn dieses Übel beseitigt ist, oder mit anderen Worten, wenn sich keiner als Verlierer fühlt, hätte ein – in diesem Fall um das Trentino erweiterter – «Staat Südtirol» ein gemeinsames Substrat, ohne das eine Willensnation nie entstehen kann.
Noch lange kein Land in Sicht
Doch vorerst sind das nur Träume. Der Salvini kriegt heute schon einen trockenen Arsch, wenn er an die Macht der Tiroler denkt, mit dem sie seine LKW über Nacht in die Abstellplätze an der Inntalautobahn zwingen. Gäbe es einen Staat Südtirol, dann hätte Italien zwei Gate-Keeper, die es für den Weg über die Alpen auf Knien bitten müsse. Niemals. Österreich ist als Hilfe zu klein und den Deutschen fliegt bald ihre eigene, mißliche Politik um die Ohren. Außerdem sind sie, wenn es hart auf hart geht, sowieso immer auf der Seite Italiens. Bleibt nur noch die kriegerische Variante, auf die niemand Bock hat. Noch nicht. Noch lange nicht. Vorher wird Europa muslimisch.