Viva Widmann, möchte man sagen. Doch vor dem Lob des Ausreissers (Radrennfahrer-Sprache) muss die Würdigung der gewesenen Südtiroler Volkspartei stehen.
1945 gegründet, um in der parlamentarischen Neuordnung Italiens die österreichische Minderheit in Südtirol zu schützen, schlossen sich in der Südtiroler Volkspartei alle deutschen und ladinischen Südtiroler zusammen, um als Sammelpartei von damals nur 300.000 das bestmögliche Gewicht gegenüber Rom auf die Waage zu bringen. In der SVP waren buchstäblich alle dabei, die Bauern und ihr Gesinde, die Fabrikherren und ihre Arbeiter, die Handelsbarone und ihre Angestellten, einfach alle. Alles sehr klerikal, sehr rural, sehr patriotisch, aber mit einer bürgerlichen, konservativ bis liberal changierenden Sahnehaube oben drauf. Wie es eben der Zeit entsprach.
Als gegen Mitte der 1960er die Sozialdemokratie ihren Stellenwert einforderte und die sogenannten „Arbeitnehmer“ sich sozialistisch zu organisieren begannen, überwand der gestrenge Magnago sein politisches Ich und holte die „kleinen Leute“ heim in die Volkspartei der Bauern, Geschäftsleute und Doktoren. Alles zum Wohle der Heimat. Die Partei hatte nun zwei Herzen, aber auch zwei Flügel. Als dann noch die Einkommen aus dem Tourismus und aus den Römern abgetrotzten Eigensteuermitteln dank Autonomie reichlich zu fließen anhuben, da wurde aus der SVP jene „Erfolgsgeschichte“, als die sie bei Festanlässen stets gepriesen wird. Die fetten vier Jahrzehnte des stetigen, allgemeinen Reichwerdens (1980-2020) waren, politisch gesehen, ein Standbild (engl. „a still“): mit einer kaum merkbar fortschreitenden, untergründigen Dekadenz in Lebensstil und Umgang. Heute lebt das Land im Zustand der materiellen und psychologischen Übersättigung (Symptome: mediale Hysterie und ostentative Selbstzufriedenheit).
Erst vor einigen Monaten habe ich ein altes Essay von mir durchgelesen – eine moralisierende Philippika gegen die Zustände im „letzten Ostblockland Europas“ (Georg Dekas, Lananer Gemeindeblatt, 1993). Was mich heute an diesem Stück beeindruckt, ist weniger die sarkastische Beschreibung Südtirols und der SVP in jener Goldgräberzeit nach dem Mauerfall, als vielmehr die Erkenntnis, dass alles gleich geblieben ist, dass sich im Wesentlichen nichts verändert hat bis in die Gegenwart des Jahres 2023. Oberflächlich gesehen wenigstens. Aber gut, wenn sich eine Räuberbande einen Schatz aufteilt, der sich jedes Jahr neu bildet, dann ist Burgfriede das Gebot schlechthin. Oder wie es, Gott hab ihn selig, der große Rudolf Rimbl geputtet hat: „In diesem Land gibt es nur mehr zwei Sorten von Leut: Solche die pappen und solche, die schon gepappet haben.“ Dennoch: Jenseits aller Moralisterei ist anzuerkennen, dass ohne die (Auf-) Sammelpartei SVP das lange und geordnete Auflesen des Manna, das Gott so reichlich über Südtirol hat fallen lassen, nicht so leicht möglich gewesen wäre.
Wenn ich heute als langjähriger Fußsoldat und späterer politischer Beobachter auf „die Partei“ sehe, so muss ich feststellen: Diese Sammelpartei ist und bleibt einzigartig. Die SVP kann man nicht beliebig in der Retorte herstellen oder duplizieren. Vergeblich waren die Versuche der Italiener, ihrerseits eine „Sammelpartei“ zu erschaffen. Missglückt ist, trotz eines verheißenden Anfangserfolgs, der Versuch von Paul Köllensperger, eine SVP 2.0 zu schmieden. Mit der Einzigartigkeit ist auch gesagt, dass das Leben der SVP nicht beliebig verlängerbar ist. Oft schon haben der SVP ihre Gegner das letzte Stündchen vorausgesagt. Immer vergebens. Lediglich das unbarmherzige Altern zeichnet sich ab in stetig sinkenden Wahlergebnissen. Am 22. Oktober 2023 haben wir in Südtirol mit den Landtagswahlen wieder einen Arzttermin, bei dem auch die Gesundheit der alten Dame SVP auf Herz und Nieren geprüft werden wird.
Und damit kommen wir zu Thomas Widmann. Der an dieser Stelle nicht groß vorgestellt werden muss. Reihen er und seine „Kurskorrektur“ sich ein in die großen Dissidenten der Partei wie Hans Dietl, Egmont Jenny, Alfons Benedikter oder Christian Waldner? Das ist schon jetzt affirmativ zu bejahen. Oder bringt seine brandneue Liste „Für Südtirol mit Widmann“ einmal mehr eine viel zu kleine Oppositionspartei hervor? Bedeutet Widmann gar das Ende der Sammelpartei? In diese Richtung gehen die ersten Stimmen nach der Ankündigung von SVP-Urgestein Thomas Widmann, bei den Landtagswahlen 2023 mit einer eigenen Liste ins Rennen zu gehen. Da freuen sich die einen zu früh und die anderen fürchten sich zu viel. Widmanns Liste bedeutet historisch gesehen nichts anderes, als dass Magnagos Fusion von Arbeit und Kapital in der Partei mit vertauschten Rollen und sozusagen als Salto rückwärts ablaufen wird.
Das muss erklärt werden. Der rote Flügel in der Sammelpartei SVP, die sogenannten „Arbeitnehmer“ (modisch und vorübergehend „Arbeitnehmer:innen“) haben längst das Ruder in der SVP übernommen, auch wenn sie und ihre medialen Sprachrohre sich kleinkariert beklagen, von der „Bauern- und Wirtschaftslobby“ in die Bedeutungslosigkeit versenkt worden zu sein. Man muss sich nur den Landeshaushalt ansehen, um zu verstehen, dass die Sozis im Edelweiß seit der ersten Stunde die fetten Wiesen und nicht die mageren bewirtschaften. Nur, so geschickt wie die mächtige Rosa Franzelin, ein Hochkaräter der Vor-Quoten-Ära, stellen sie sich halt nicht mehr an. Umgekehrt übt Thomas Widmann den undiskreten Charme eines wiffen Managers aus, ein sportlicher, hagerer, groß gewachsener Mann aus bester Bozner Bürgerfamilie, ein Self-Made-Unternehmer, einer der das Spielfeld überblickt und seine Taktik maßgenau entwirft – und der im reifen Alter genau richtig angekommen ist für große Politik.
Er dürfte wie ein Magnet wirken auf zu Recht frustrierten Leistungsträger in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens hierzulande. Mit der Liste „Für Südtirol mit Widmann“ könnten gar die Gründerschichten der SVP ihr Stühlchen wechseln und in eine neue, sogar bessere SVP übersiedeln. Auf Zeit, versteht sich. Bis sich die aktuelle, zartrosa bis lindgrün gefärbte Führungsschwäche der alten SVP von selbst ausbleicht. Denn so, wie ich den Widmann einschätze, so wie er es selber sagt, und wie es von ihm gesagt wird („Ein 100-prozentiger SVPler“, M. Liebl), und allein, wie es schon der nüchtern-technische Name seiner Liste verrät, denkt Thomas Widmann gar nicht an den Aufbau einer Eigenmarke. Seine Liste ist nicht das Schlachtschiff, das die alte Dame SVP versenken wird. Nein, nach der taktischen Trennung strebt er eine Wiedervereinigung in Glanz und Gloria an – vorausgesetzt, das Ansaugen der im Edelweiß ausgelaugten Bürgerlichen gelingt und der Strauß der Landtagswahl endet glücklich. (Für Jüngere: Strauß ist ein Waffengang im Ritter-Turnier). Vielleicht wird der große Plan nicht sofort hinhauen, vielleicht aber doch.
Gleich, ob das nur ein Plan bleibt oder wirklich eintrifft: Wahrscheinlich ist die Liste Widmann für die alte SVP eher ein lebensverlängernder Bypass am Herzen denn eine tückische mRNA-Spritze ins Gewebe. Von Widmann aus gesehen, ist die Gefahr jedenfalls gering, dass eines Tages in der „Dolomiten“ eine Parte steht, die verkündet: Unsere liebe SVP ist „plötzlich und unerwartet nach Herzversagen“ dahingeschieden.