Barometer in Schloss Koreth (um 1820). Foto: dege

DIE NEUE MITTE VON EINST

Georg Dekas
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11. Mai 2023

Die Neue Mitte ist Teil meiner Biografie. Hat mit Erfinderstolz zu tun. Und Nachahmern.

Und mit einem Südtiroler Politiker. Die 1980er Jahre. Der aufstrebende Südtiroler Politiker O. Peterlini (SVP) war zum Landtagsvizepräsidenten gekürt worden. Aus der Jugendorganisation der Partei erwachsen, war Peterlini äußerst agil und nie aufs Maul gefallen. Marketingtechnisch ein Tausendsassa. Als eingetragener Publizist bot er den wie Schwammerln aus dem Boden schießenden Gemeindeblättern an, die presserechtliche Verantwortung zu übernehmen, wenn sie ihm dafür politische Werbung machten.

Ich, Dr. phil. Georg Dekas, hatte 1987 das „Lananer Gemeindeblatt“ aus der Taufe gehoben und eigenhändig zusammengebaut und suchte nach einem „direttore responsabile“, dem obligatorischen Verantwortlichen vor dem Pressegesetz. Also Termin bei O. Peterlini in Bozen. Landtagsgebäude, erster Stock, Tür hinten links. Alles sehr nobel. Bat ihn, für mein „Lananer Gemeindeblatt“ verantwortlich zu zeichnen. Gerne, sagte er. Handschlag. Dann fragte er mich aus, ich sagte, ich sei Aushilfslehrer am Gymnasium und hätte erst vor Kurzem die Prüfung zur Aufnahme in die Stammrolle als Professor für Philosophie erfolgreich abgeschlossen. Er machte mir ein tolles Angebot. Und behielt mich in seinem Vorzimmer als „Partikularsekretär“, vulgo Wahlkampfgehilfe. Am 20. November 1988 waren Landtagswahlen angesagt. Die O. Peterlini souverän meisterte.

Er wollte mich weiter behalten. O. Peterlini und sein engster Politik-Partner Franz Pahl begannen altersmäßig beide aus den Schuhen der „Jungen Generation“ herauszuwachsen. Es galt, eine neue Strategie zu finden. Die Flügel Arbeitnehmer, Bauern und Wirtschaft waren schon gut besetzt. Die 1988er Wahl hatte zudem neue Abgeordnete gebracht, die sich in diesem traditionellen Schema auch nicht einfügen wollten, wie z.B. der gewesene Meraner Bürgermeister Franz Alber. Es galt, einen neuen politischen Flügel aufzubauen, mitten in der Sammelpartei SVP.

Also erfand ich die „Neue Mitte“. Meine Argumentation: Viele Söhne und Töchter klassischer Arbeiter, Landarbeiter, kleiner Angestellter haben seit 1968 über Ausbildung und Studium den Sprung in den Mittelstand geschafft. Überdies zeichne sich im neuen Wohlstand so etwas wie eine „klassenlose“ Gesellschaft ab, die mit Benetton, Golf, Swatch-Uhr und Ikea weder oben noch unten sein wolle. Diese soziologische „neue Mitte“ gelte es zu gewinnen. Sie sollte das Wählerreservoir für SVP-Abgeordnete werden, deren Bandbreite von wertkonservativ über bürgerlich-liberal bis hin zu sozial fortschrittlich und kulturell aufgeschlossen gehen sollte, bei starker Betonung der politischen Persönlichkeit. Peterlini und Pahl waren Feuer und Flamme. Aber, so warnte ich: Dafür würde es einen genau ausgetüftelten Schlachtplan brauchen. Kein Problem. Wir ziehen das Ding groß auf. Ich bekam die Erstvorstellung meines Konzepts vor einem halben Dutzend SVP-Mandataren in einem Saal des Regionalgebäudes neben dem Waltherhaus in Bozen. Es war im Spätherbst 1988. Tage nach der Vorstellung preschte Peterlini mit dem Namen „Neue Mitte“ in den Zeitungen vor.  Und reduzierte damit den Plan auf ein wohlfeiles Etikett unter seinem Namen. Er wollte wohl als Erfinder der „Neuen Mitte“ gelten. Enttäuscht und wütend über diese Raubvogel-Aktion verließ ich den Gehilfe-Posten in Bozen und ging nach München zu Pro Sieben. Ich würde „Klinken putzen“ gehen, schrieb mir Peterlinis Bruder aus der „ff“ gehässig hinterher. Einsame Klasse, wirklich.

Meine späte Rechtfertigung und Befriedigung erhielt ich, als SPD-Kanzler Gerhard Schröder ganze zehn Jahre später seine „Neue Mitte“ ins Leben rief. (Siehe Wikipedia: Das Schröder-Blair-Papier; 8. Juni 1999). Die ebenfalls nur kurz Bestand hatte. Aber mein Riecher und meine Namensgebung waren war goldrichtig gewesen.

 

P.S.

Dieses autobiografische Stück veröffentliche ich auf NUiS nur deshalb, weil im Wahlkampf zur Landtagswahl 2023 wieder so eine „Mitte“ in der SVP herumgeistert. Mit weit weniger Substanz, wie es den Anschein hat.

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