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DEMOKRATIE UND MEHRHEIT

Georg Dekas
|
5. Oktober 2024

Das Mehrheitsprinzip 50%+1 ist von gestern.

Niemand würde bestreiten wollen, dass wir heute in einer marant vielgestaltigen Gesellschaft leben. Andere sagen pluralisitische, wieder ander bunte Gesellschaft, egal. Im Wesentlichen ist diese Vielgestalt die Frucht der Marktwirtschaft und der persönlichen Freiheit. Deshalb ist es befremdlich, wenn Politiker von einer „fragmentierten“ oder sogar von einer „gespaltenen“ Gesellschaft reden. Das erste klingt zerrissen und zerbrechlich, das zweite zerstritten und uneins. Natürlich sind solche negativen Begleiterscheinungen anzutreffen, aber sie sollten nicht das große Gut verdecken, welches entsteht, wenn eine freie Gesellschaft ihr Tun und Wirtschaften arbeitsteilig, austauschend und von alleine organisieren darf und die Leute nach ihrem Gusto leben. Somit gehört es sich, dass Bürger in festgesetzen Zeitabständen der bevorzugten politischen Partei frei und geheim ihre Stimme geben können.

Differenzierte Gesellschaft bedeutet differenzierte Mehrheiten

Vor dem Hintergrund der hochgradig differenzierten Arbeits- und Lebenswelten wäre es geradezu verrückt, sich zu erwarten, dass eine einzelne Partei, noch dazu eine mit einem klaren Profil, die Hälfte plus eine der abgegebenen gültigen Wahlstimmen erhalten könnte. Der Zusammenhang ist völlig klar: Je differenzierter eine Gesellschaft, desto differenzierter ist in einer Demokratie auch das Angebot an Wahlmöglichkeiten und desto differenzierter, sprich relativ kleiner, sind auch die Anteile der wahlwerbenden politischen Parteien. Wenn eine einzelne Partei in der Gesellschaft von heute einen Wahlerfolg von 25% der Wahlstimmen auf sich vereint (FdI 2022 in Italien), dann ist das so, als hätte sie vor fünfzig Jahren (1974), als die Gesellschaft noch in zwei Blöcke geteilt war, die absolute Mehrheit geholt. Kratzt eine Partei sogar an der 30%-Prozent-Marke, dann ist das nicht weniger als eine Zweidrittelmehrheit nach alter Rechnung.

Regeln wie im Sport nötig

Leider hinkt die freiheitliche Demokratie in diesem wesentlichen Punkt ihrer Wertigkeit der Zeit hinterher. Sie hat die Differenzierung der Geselllschaft noch nicht auf das parlamentarische System übertragen. Die Konsequenz aus der Lebenswirklichkeit einerseits und das Gebot der Eindeutigkeit der Regierungsarbeit würde es erfordern, dass das Kriterium des Wahlsieges neu gefasst wird: Nicht mehr die numerische oder absolute Marke von 50%+1 sollte den Wahlsieg und Regierungsanspruch begründen, sondern die singuläre Mehrheit, so wie im Sport: Wer im Zieleinlauf ungeschlagener Erster ist oder wer in ein und derselben Partie mehr Tore schießt, der ist Sieger. Ein Tor mehr als der Gegner genügt.

Gestohlene Souveränität

Im Sport ist es undenkbar, dass die rote, die schwarze und die grüne Mannschaft alle ihre Tore zusammenzählen und dann behaupten, eine jede hätte über die blaue Mannschaft gesiegt. So aber läuft es derzeit in der Politik. Die Regel ‚50%+1 ist die Mehrheit‘ nehmen die Parteien zum Anlass, die frisch ausgewiesenen Präferenzen der Wählerschaft zu missachten und sich selber an die Stelle des Souveräns zu setzen. Lieber als Macht abzugeben, organisieren sie sich in einer „Koalition der Verlierer“ (Bsp. Südtirol, 2023). Das Ärgernis dieser überdehnten und krass undemokratischen Koalitionsbildung wird augenscheinlich, wenn sich noch dazu unter den (relativen) Verlierern entgegengesetze Extreme zusammenfinden, die ihrer Natur nach niemals zusammen sein dürften. Das war der Fall in Südtirol, wo sich die antinationalisitische SVP mit den ultranationalistischen FdI verband; das war der Fall in der Bundesrepublik Deutschland, als die goldene FDP der reinen Macht zuliebe bei Tiefroten und Ultragrünen andockte („Ampel“). Das gleiche üble Schauspiel des Betrugs an der Demokratie spielt sich in Thüringen und Sachsen (Landeswahl 2024) ab. In Wien hat die FPÖ von Herbert Kickl einen Erdrutschsieg (29. September 2024) errungen, und dennoch tun die anderen Parteien so, als ob nur sie die demokratische Legitimation hätten, die zukünftige Regierung für ganz Österreich zu stellen.

 

Einfache und eindeutige Mehrheit zählt

Eine Erneuerung der Spielregeln im Sinn der vielgestaltigen Lebenswirklichkeit und die Einführung der singulären Mehrheit wie im Sport ist das Gebot der Stunde, wenn die Demokratie ihren unübertroffenen Wert beibehalten will. Dem singulären Wahlsieger steht es dann immer noch frei, sich Weggefährten für die Regierung mit ins Boot zu holen. Das wird ihm die Klugheit raten.  Entscheidend nur, dass die Regel 50%+1 nicht der Strick um den Hals ist.

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