Es wird in Südtirol so viel gebaut wie nie und dennoch herrscht Wohnungsnot. Das ist paradox, aber erklärbar.
In Südtirol sind die Dörfer und Städte regelrecht explodiert. Rund um die Stadt- und Dorfkerne hat sich die Wohnbebauung um das Vielfache ausgebreitet, und das nicht nur in den so genannten Ballungsräumen. Auch die Bergdörfer und ihre in die Landschaft geschüttelten Höfe sind technisch gesehen zu Stadtteilen geworden. Mit Pendlern, sozialem Wohnbau in Reihenhäusern, Straßen, modernen Bahnsystemen, Einzäunungen, Müllabfuhr, Schultransport, halt alles, was städtisch macht. Allein das Wiesen- und Waldgrün dazwischen täuscht über die neue Wirklichkeit hinweg. Die Wohnbaumasse im gesamten Land ist mindestens doppelt so groß wie noch vor 50 Jahren. Gleichzeitig sind die Familien auf die Hälfte geschrumpft. Heute entwachsen einem Haushalt statistisch gesehen nur mehr eineinhalb Kinder, vor 50 Jahren waren es drei. Rein physikalisch müsste es folglich einen massiven Wohnraumüberschuss geben.
Wohnraum bleibt ungenutzt
Die von Einheimischen und ihren Volksvertretern ständig vorgetragene „Wohnungsnot“ (die Zeitungen fließen über davon) hat nicht die üblich genannten Ursachen. Es sind nicht die Zweitwohnungen, die von Ortsfremden zu Erholungszwecken angekauft werden, auch wenn deren Nachfrage sehr groß ist. Es sind nicht einmal die überteuerten Mieten, die nur den Misstand eines politisch verknappten Angebots anzeigen (Bauherren würden sofort bauen, aber sie dürfen vielfach nicht wegen zu restriktiver Raumordnung oder sie erleiden Einbußen durch die staatliche Mietgesetzgebung). Nein, die Erklärung für das Südtiroler Wohnbauparadox ist weit banaler. Der vorhandene Wohnungsleerraum kehrt nicht auf den Markt zurück, er ist bleibt vielfach ungenutzt besetzt. Das liegt wesentlich in der kulturellen und soziologischen Entwicklung begründet.
Die erste Eigenheimwelle
In der alten bäuerlichen Ordnung war ein Haus immer ein Mehrgenerationen-Haus und auch ein intersoziales Haus. Intersozial deshalb, weil ledige Tanten oder Onkel ebenso zur Familie gehören konnten wie ledige Dienstboten, die zusammen mit der Inhaberfamilie ein Leben lang auf dem Hof hausten. Nach dem Ersten Weltkrieg (ab 1918) begann eine neue Zeit, zunächst geprägt von den großen Gemeindebauten (exemplarisch in Wien) und dem faschistischen Volkswohnbau (exemplarisch „Semirurali“ in Bozen), dann nach 1945, geboostert vom amerikanischen Erdöl, begann die Zeit des „Häuslebau“, in Südtirol getoppt vom geförderten Wohnungsbau („Franzelin“-Reihenhaus) ab der 1970er Jahre. Im Endergebnis hatten alle Familien, die wollten, ihr Eigenheim. „Die Tür hinter mir zumachen können“, sagte meine Mutter erlöst, als sie von der Großfamilie in eine städtische Kleinwohnung wechselte. So erging es den meisten. Und es ist klar: Niemand geht ohne Not aus so einer ganz und gar eigenen Wohnung heraus. Zusammen mit der ordentlich gesteigerten Lebenserwartung hat das zum Zustand geführt, dass es im Land zwar mehr Wohnhäuser gibt als je zuvor, dass aber alle Wohnungen „besetzt“ sind. Aus Altersgründen und Generationenwechsel steht unglaublich viel Wohnraum ungenutzt herum.
Die Nachfrage nach Wohnen ist schier unendlich
Nach der bisherigen Bau-Logik wollen die Leute den Grundsatz „Hinter mir die Türe zu“ fortführen: Die Söhne und Töchter der in ihren kleinen Wohnungen verbleibenden Eigenheimler, darunter viele Singles und Geschiedene, die Erwerbs-Zuwanderer, die Studenten, und warum nicht, auch die begehrten Zweitwohnungen für wohlhabende Leute, die sich ein Stück schönes Südtirol kaufen möchten. Das Bauvolumen und der Flächenverbrauch würde sich noch einmal verdoppeln müssen, um diese neue, vielfach sekundäre und äußerst differenzierte Nachfrage zu befriedigen.
Mehr freier Markt würde helfen
Gäbe es nur den freien Markt und eine Politik, die diesen klug begleitet, würden sich innerhalb der realen Tatsachen und Möglichkeiten neue Gleichgewichte einstellen, bei denen weder Natur noch Schönheit zu kurz kommen würden. Manche alten Heimischen würden weichen, manche die Nachbarwohnung zukaufen, industrielle Bauherren würden in den Städten neue Siedlungen mit Tausenden Wohnungen innerhalb von einem Jahr in die Höhe ziehen, manche Bauern würden glänzende Geschäfte mit Waldferiendörfern machen, und so weiter. Wer kann, der tut, wer nicht kann, streckt sich nach der Decke. Von einer Wohnungsnot würde kaum mehr die Rede sein, sehr wahrscheinlich aber von neuen Wohnungschancen.
Bremsklotz und Spielmacher Politik
Doch den durchaus machbaren Wohnungschancen steht eine auf die eigene, bisher aufgebaute Macht der Politik entgegen. Mit Beiträgen, Verhinderungsgesetzen („Raumordnung“) und Staatssozialismus haben sich Politiker daran gewöhnt, das letzte Wort zu haben, und sie wollen es weiter haben. Es ist einfach zu schön, wenn Bürger antanzen und auf Knien um etwas bitten müssen, während man selber, um Politiker zu werden, nichts anderes getan hat, als Hände zu schütteln, in die Kamera zu lächeln und warmes Wohlwollen zu verbreiten. Da darf nun der Natur- und Landschaftsschutz herhalten, um die Prärogative der Politik fortzuführen. Der Klimaschutz ist eine ausgezeichnete Ausrede, um mehr Wohnraum in höherer Qualität auszubremsen. Schließlich muss auch die gefräßige „Spekulation“ mit Paragrafen niedergeknüppelt werden, dieses Nebelwort findet immer Anklang. Wenn nun die Politik (SVP-Koalition, aktuell) sagt, sie wolle ernsthaft „Leistbares Wohnen“ erreichen, dann macht sie etwas vor. Sie kann das gar nicht wollen, sie will nur die Wohnraum nachfragenden Bürger hinhalten und ihr Qual mit ein paar Süßigkeiten nur noch strecken. Denn die Politik könnte die oben beschriebene, neue „Wohnungsnot“ sofort beenden, wenn sie nur die Häfte aller Subventionen, Eingriffe und Verbote restlos streichen würde. Aber so ein Xavier Milei ist in Südtirol noch lange nicht in Sicht. Damit bleibt das Wohnraum-Paradox bestehen: Viele Wohnungen, große Wohnungsnot.