Valentino Pittoni (1872-1933)

Valentino Pittoni

Georg Dekas
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1. Mai 2023

Zum Ersten Mai die Würdigung eines vorbildlichen Sozialisten. In der Retrospektive.

Volks-Zeitung, 14. April 1933 

Das Lebenswerk eines Sozialisten 

Zum Tode des Chefadministrators Valentino Pittoni — Der Mann der italienischen Arbeiterbewegung 

Valentino Pittoni ist gestorben. […] Wir bringen heute den warmempfundenen Nachruf, den Genosse Wilhelm Ellenbogen in der „Arbeiter-Zeitung“ geschrieben hat. 

Aus der Geschichte der italienischen Arbeiterbewegung

Wien, 13. April. (*) Die italienische Arbeiterbewegung war seit jeher, den politischen und nationalen Besonderheiten des italienischen Volkes und seiner Geschichte entsprechend, von anderem Charakter und Ausbau als die der deutschsprachigen Länder. Die feurige Lebhaftigkeit dieses Volkes verleitet leicht zu starken Ausbrüchen der Begeisterung für eine große, schwunghafte und hinreißende Idee, zu gewaltiger Opferwilligkeit und kühnen Taten. Dagegen liegt dem romanischen Temperament die zähe, minziöse Kleinarbeit, die den deutschen Arbeiter so hervorragend auszeichnet, nicht. In den romanischen Ländern macht die Arbeiterbewegung zumeist einen flugsandähnlichen Eindruck. Die italienische Arbeiterbewegung im alten Oesterreich litt anfangs schwer unter dieser Eigenart. Auf die nationale Phantasie dieser Proletariergruppe wirkten sehr stark die freiheitlichen Bestrebungen des benachbarten Muttervolkes, seine Einigungsideale, der Haß gegen das österreichische Unterdrückerregime. Der nationale Irredentismus schuf da eine Atmosphäre, die dem reinen Proletarischen Interesse und der Erziehung der Arbeiterschaft im Sinne des Klassenkampfes schwer abträglich war. 

Sein Kampf gegen den Irredentismus 

Es war ein beispielloses Glück, daß in dieser Zeit der italienischen Arbeiterbewegung ein Mann wie Valentino Pittoni beschieden wurde. Dieser blonde junge Mann aus dem Friaul, stellte mit seiner kühlen Klugheit und Sachlichkeit einen Fels im brandenden Meer der leidenschaftlichen Regungen der küstenländischen Arbeiterseele dar. Er begann sofort dem flüchtigen Schäumen der begeisterten Freiheitsphrase die Forderung nach einer wohlgefügten, fest gegründeten, sicher und verläßlich funktionierenden Organisationsarbeit entgegenzustellen. Er schuf die typisch österreichisch untrennbare Einheit zwischen politischer und Gewerkschaftsbewegung, der er später — kaufmännisch vorgebildet, wie er war — die genossenschaftliche anfügte. Er organisierte die systematische Bildungsarbeit und er war es, der das Proletariat der italienischen Provinzen von der Umklammerung durch den nationalistischen Harmoniedusel loslöste und ihm die Erkenntnis von seiner geschichtlich bedingten Sonderstellung und Aufgabe als Klasse beibrachte. Sein Kampf gegen den Irredentismus war eine der rühmlichsten, tapfersten und verdienstvollsten Leistungen in der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, er trug ihm denn auch den fanatischen Haß der Irredentisten ein, die, spitzeldurchsetzt, wie solche bürgerlichen Bewegungen immer sind, ihn als „Austriacante“ vor der öffentlichen Meinung zu verleumden suchten und sich bis zu den elendesten Angriffen auf seine persönliche Ehre verstiegen. 

Der unermüdliche Organisator 

Er gewöhnte die italienischen Arbeiter an die organisatorische Kleinarbeit, an die systematische Beitragsleistung, an die unermüdliche Werbearbeit für das Parteiorgan. Seinem ordnenden Geist gelang es, den Triester „Lavoratore“ zu einem finanziell gesicherten Blatt zu machen, das im Kampfe gegen Altösterreichs Polizeigeist in mustergültiger Weise seinen Mann stellte. Unter seiner Führung blühte die Sozialdemokratie so mächtig auf, daß sie bei den Wahlen aus Grund des allgemeinen Wahlrechtes in Triest von fünf Mandaten vier eroberte. Mit einem Wort, er führte in diese Bewegung den deutschen sozialistischen Typus ein: Eine vielfach komplizierte, aber in allen ihren Teilen aufeinander eingespielte Organisation, in der Begeisterung und Nüchternheit, Idealismus und Sachlichkeit, Opferbereitschaft und Aufbauarbeit, Kampfesfreude und Beharrlichkeit eine wunderbar harmonische Einheit darstellten. Eine Leistung, die nur eine Person mit Gründlichkeit, mit organisatorischer Begabung und mit der Fähigkeit, Menschen zu behandeln, vollbringen konnte. Sehr bald gewann er denn auch einen ganz überragenden Einfluß im gesamten öffentlichen Leben von Triest. Das Küstenland erhielt von ihm förmlich sein geistiges Gesicht. Der Chauvinismus, der das geistige Leben vorher geradezu monopolistisch beherrscht hatte, trat in seiner Bedeutung vollständig zurück. Und die Vorhersagungen der politischen Literatur, sie haben gelehrt, daß die einseitig nationalistische Betrachtung der Dinge allein nicht unter allen Umständen einen Gewinn bedeutet.

Sein Dank an Viktor Adler

Der Krieg hat das Küstenland an Italien gebracht. Reichsitaliener geworden, hat Pittoni drüben seine außerordentliche organisatorische Begabung in der Genossenschaftsbewegung betätigt, in der er sehr bald eine überragende Rolle spielte. Aber der Sieg des Faschismus, die Zertrümmerung der Genossenschaften, entzog seiner fruchtbaren Tätigkeit den Boden. Bis ins Tiefste erschüttert von dem furchtbaren Verfall der italienischen Kultur, des Rechts und des Sozialismus, persönlich am Leben bedroht, jeder fruchtbaren Tätigkeit beraubt, kehrte er nach Österreich zurück.

Die tief eingewurzelte Lust am Aufbauen, an der systemvollen Arbeit, am Ueberwinden von Schwierigkeiten, am Ausgleichen von Gegensätzen, die Dankbarkeit für seinen, von ihm innig verehrten großen Lehrer Viktor Adler und gewiß auch das nie erloschene Gefühl des Verwachsenseins mit der österreichischen Arbeiterbewegung hat ihn zu uns zurückgeführt. Und man fühlte förmlich das aufatmende, das befreiende Glücksgefühl in ihm, als er in den Vorschlag, Verwalter der Arbeiter-Zeitung zu werden, sofort begeistert einschlug. An dem Italiener Pittoni ist uns deutschen Sozialdemokraten einer der Unseren verlorengegangen.

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Quelle: digital.tessmann.it

 

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