Für eine grundlegende Erneuerung der politischen Willensbildung. Ein Plädoyer für alte Tugenden und neue Köpfe.
Südtirol – das letzte Ostblockland der Welt
Vergessen Sie für einen Augenblick einmal alles, was Ihnen an wichtigen Worten im Ohr liegt. Autonomie, demokratische Vertretung, Schutz der Südtiroler Volksgruppe, Einigkeit im Edelweiß. Vielleicht gewinnen wir dadurch die Gedankenfreiheit, uns einmal anzuschauen, wie weit es unsere Politik in Südtirol gebracht hat.
Wir Südtiroler leben wie die Maden im Speck. Dafür arbeiten wir hart. Aber Gott hat uns ein derart schönes Land gegeben, daß Gäste, um es zu genießen, auch jede noch so zache Kaminwurz, jede noch so schlappe Bedienung und jedes noch so abenteuerliche Preisnveau hinnehmen würden.
Im übrigen ist Land und Staat der größte Arbeitgeber, so daß den allseits beamteten Südtirolern der Rest der Welt eh wurscht ist, außer die Pflege der richtigen Leute, die für den Job entscheidend sein können. Grüß Gott, Herr Landesrat! Was sonst noch übrig bleibt, arbeitet still auf Feld und Wiese oder sitzt über den nächsten Subventionsantrag.
Die SVP ist seit der Verabschiedung des «Pakets» arbeitslos geworden, wenn man vom ständigen Herumpakteln an den selbstverschuldeten Pannen und Lücken in diesem wackligen Anatomiegebäude absieht. Aber sie sitzt fest, bequem und selbstherrlich in den Sesseln der Macht. An allen Schalthebeln – vom Kanarienzüchterverein bis hinein in den römischen Apparat. Immer wieder in den vergangenen Jahrzehnten haben wir, die breite Mehrheit der Südtiroler Wähler, ihr den Mantel der hohen demokratischen Mission umgelegt. Nun, da es nur mehr ein um ein endloses Hin und Her bei Punkten weit hinter dem Komma geht, fällt der Mantel unbarmherzig ab. Und wie steht er nun da, der König ohne Kleider?
Als letzte Einheitspartei von der Gattung der sibirischen Dinosaurier. Mit Funktionären, die eine Nomenklatura sind. Wie ihre verblichenen Kollegen der Breschnew-Ära führen sie in Sonntagsreden schöne Worte im Mund, reden von Fortschritten und immer neuen Herausforderungen und Siegen. Aber von den Staatsmännern der ersten Stunde ist nur mehr die Hülse übrig geblieben.
Praktisch gesehen ist es eine Handvoll Leute, die das Land und seine Güter untereinander aufteilen. Wer in ihre Reihen aufgenommen wird, bestimmt man im Stillen unter sich. Die milden Gaben nach außen dienen vornehmlich dazu, ihre Plätze in der internen Hackordnung (Nomenklatura) zu festigen. Jeder ist mit jedem verwandt, bekannt und verbunden – und sei’s auch nur in Intrige und Neid. Und die Jungen stehen den Alten nicht nach. Die hohe Würde und Verantwortung der Gesetzgebung wird in aller Öffentlichkeit als Kuhhandel ausgetragen. Gesetze, auch wenn sie mit vielen Paragraphen geschmückt und demokratisch debattiert werden, erscheinen öfter als geschickte Verkleidungen von interessierten Einzelfällen denn als Ausdruck des Gesamtwohls. Talente, die ihre Kraft der Gesellschaft widmen wollen, werden nicht nach ihren Fähigkeiten und Kenntnissen, sondern nach standesgemäßer Einordnung, geographischer Tallage und der Meisterschaft in Linienförmigkeit geschätzt. Die sachgerechte und weitsichtige Verwaltung des volkswirtschaftlichen Einkommens erstickt in Bonzentum, Freunderlwirtschaft und Prominentenfilz. […] Korruption, wie sie im übrigen Italien aufgedeckt wird? Bei uns nicht. Das haben unsere kleinen und großen Apparatschiks nicht nötig. Sie sind die Bewegung, sie sind der Staat. Südtirol, das letzte Ostblockland Europas unter dem Diktat des vollen Bauches.
Man muß auch einmal Nein sagen können
Gut, ich ziehe den Vorhang wieder zu und lasse das häßliche Bild verschwinden. Wer es kennt, weiß, wovon ich rede. Aber es stehen Wahlen vor der Tür. Wahlen, die in einer vollständig veränderten politischen Landschaft stattfinden. Auflösung der Machtblöcke, Not Krieg und Tod vor der Haustür, eine bankrotte Politikerklasse in Italien. Ein Europa, das sich schwer tut, zusammen zu wachsen, das seine Rolle noch nicht gefunden hat. Im Wohlstandsland Südtirol streitet man nicht um das Brot, sondern um die Butter. Gesellschaftliche Interessen driften immer weiter weg voneinander. Zwischen Grün und Wirtschaft, Heimat und Menefrego, Esoterik und Tugend gibt es akute Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten. Da kann es mit der üblichen und wohlfeilen Politikerbeschimpfung nicht getan sein. ES GEHT UM EIN NEIN ZUR FORTSETZUNG DER GEWOHNTEN PFADE. Es geht um ein klares Nein zu nacktem Lokalpotentatentum, welches sich geschäftig weigert, die Aufgaben der Zeit anzupacken; ein Nein zur Selbstherrlichkeit und zur trägen Masse der Dinosaurierpartei; ein Nein zu den kleinen Machthabern und ihrem Gefolge von dünkelhaften Wasserträgern im öffentlichen Sold, die kaum zwischen öffentlich und privat unterscheiden können. Ein klares Nein aber auch zur Hinnahme der politischen Orientierungslosigkeit, von der gerade in diesen Zeiten profilsüchtige, selbsternannte Oppositionelle profitieren möchten.
Worum es eigentlich geht
In diesem Beitrag zur öffentlichen Diskussion stehen nicht überholte Fragen der Ideologie oder Belehrungen an, welche Sachpolitik zu machen ist. Gegenstand ist das gegenwärtige tiefe und berechtigte Unbehagen an der Politik. Gegenstand ist die notwendige Rückbesinnung auf die Ethik im Geschäft des Gemeinwohls, das unseren «Machern» zu fehlen scheint.
Die Diagnose
Das Gute an Südtirol: Ein kleines Land mit weitgehender Selbstverwaltung, einer noch nicht ganz vergessenen guten Tradition und einer Wirtschaft, die aufgrund der besonderen Lage des Landes immer noch überdurchschnittlich stark ist. Die Autonomie und das Bemühen um eine Europäische Gemeinschaft sind gute staatsrechtliche Arbeitsgrundlagen. Was noch lange ein Hemmschuh bleiben wird, ist die politische Zugehörigkeit zu Italien. Nicht weil die Menschen das Problem sind, sondern ihre Institutionen. Sie sind wesentlich dafür verantwortlich, daß sich Südtirol zu einem kleinen Tümpel mit wenig Sauerstoff und damit zu einem Tummelplatz für Kröten und unedlen Fischen zurückentwickelt hat.
Maßstäbe der Politik und die italienische Misere
Die notwenigen Lebensgrundlagen für jedes gesunde Gemeinwesen – und nur demokratisch funktionierende Gemeinwesen auf einer unerschütterlichen Rechtsgrundlage sind gesund – sind Austausch, Zirkulation, Offenheit – eben Freiheit. Die Freiheit verlangt strenge Voraussetzungen, ohne die sie nicht gedeihen kann. Bürger müssen Gesetze und Verordnungen als zweckmäßig, unerläßlich und unbeugsam verstehen können, müssen Vertauen in die Gerichtsbarkeit haben können, um sie als Gegengewicht zur Politik und nicht nur als ein weiteres Schlupfloch zu empfinden. Bürger müssen sich mit den sozialen Diensten identifizieren können, müssen mit dem Wettbewerb von Ideen und wirtschaftlichen Initiativen leben können, müssen das Gefühl haben, daß das Recht auf der Seite des (Ge)Rechten steht und für sie greifbar ist. Diese Voraussetzungen können nur funktionierenende Institutionen schaffen, die der Bürger im Einzelfall zwar fürchten, die er im gesamten jedoch als seine eigenen betrachten können muß.
Damit so etwas der Fall ist, müssen Institutionen in langen geschichtlichen Zeiträumen wachsen. Sie funktionieren am besten, wenn sie über kleinkarierte Ministaaten hinauswachsen und wenn sie im Großen durch gemeinsame Werte getragen werden. Werte, die meist druch Sprache und Lebensart entstehen und gehalten werden. Diese Institutionen auszuformen und in Geltung zu halten kann nicht von zusammengewürfelten Interessenvertretern, sondern muß von professionell denkenden Fachleuten bewältigt werden. Diese Fachleute wiederum müssen im Volk durch Sprache, Mentalität und Realitätsbezug verankert sein.
Diese Erkenntnisse machen deutlich, daß eher noch die kaiserlich-österreichische Verwaltung in der Lombardei vor mehr als hundert Jahren den dortigen Bürgern Nutzen ebracht hat, als dies heute eine italienische Verwaltung in Südtirol (auch wenn sie von Südtirolern gehandhabt wird), je zustande bringt. Denn die alten Österreicher waren in Italien zwar Landesfremde, hatten aber ein anerkannt präzises Regelwerk, während die Entscheider in unseren heutigen Institutionen weder das Regelwerk noch die Sprache und Art beherrschen.
Wer meint, daß ich zu sehr in Theorie und Geschichte schwebe, der sollte sich fragen, wieviel ihm ein funktionierender Gesundheitsdienst, ein bürgernahes Gericht, eine ausgewogene Steuergesetzgebung und eine Planungssicherheit im unternehmerischen und im sozialen Bereich wert ist. Daß die Republik Italien in allen diesen wesentlichen Bedingungen für die demokratische Freiheit der Bürger gewaltige Defizite hat, ist weder zu leugnen, noch triftigen Gründen zuzuschreiben, noch besteht die Aussicht, daß ihre Institutionen bald in die mitteleuropäische Klasse versetzt werden.
Rechts- und Staatssysteme, so zeigen uns gerade jetzt die Gegenreaktionen der Völker des ehemaligen Ostblocks, lassen sich eben nur unter Strafe beliebig und ohne Rücksicht auf Sprachen und gewachsene Kulturen überstülpen.
Dank der demokratischen Verfassung und der humanistischen Grundhaltung der mitteleuropäischen Nationen ist aus dem Fall Südtirol keine Tragödie, sondern, wie gesagt, ein hinderlicher Hemmschuh mit Auswirkungen auf das politische Mikroklima in unserem Lande geworden.
Diese Tatsache gestattet niemandem, daraus Ausreden, Hetzpropaganda oder Revolutionsgelüste zu drechseln. Aber diese grundlegenden Dinge müssen einmal deutlich in Erinnerung gerufen werden. Denn, um sich nicht vom Chaos aktueller Meldungen oder von allen möglichen politischen Parolen irre machen zu lassen, muß es einen großen Wertmaßstab als Wegweiser und Orientierungspunkt geben.
Die Südtiroler Krankheit
Dem schlechten Funktionieren des italienischen Staates, der Unbeholfenheit der einfachen Bürger in einer fremden Herrschaftssprache und der staatlich bedingten Abschottung gegenüber dem österreichischen und deutschen Raum ist es zuzuschreiben, daß der «morbus sudtirolensis», die Südtiroler Krankheit, die Krankheit des feigen Chamäleons, sich so ausgebreitet hat. Durch Autonomie und Proporz geschützt vom rauhen Wettbewerb, verführt zu einem kumpanenhaften Versteckspiel in den Irrgängen der italienischen Verwaltung, auf allen Seiten immer Schutzbefohlener, hier nicht zuständig und dort nicht zugehörig, immer Extrawurst und arme Minderheit, hat sich der Südtiroler zum Schlaumeier entwickelt. In Rom abstauben, in Wien und Bonn absahnen, hier die kleinen Schlucker spielen, anderwo groß auftreten, sich selbst für die Besten halten, die Gesetze all’italiana handhaben und zur Beruhigung des Gemüts die Böhmische blasen lassen. Fein, gell! Bekommt jedes Volk die Politiker, die es sich verdient, oder bekommen die Politiker am Ende jenes Volk, dem sie so lange Vorbild gewesen sind.
Vorschlag für eine gesunde Roßkur
Notwendig ist die Abwahl unserer SVP in der heutigen Form. Die Einstellung, das Land Südtirol als Pachthof zu betrachten und sich darin gemütlich einzurichten, darf nicht weiter belohnt werden. Zu fördern ist eine Herausbildung normaler politischer Kräfte in der Form eines echten Binnenpluralismus. Zum politischen Verwalter A muß es die Alternative eines politischen Verwalters B geben, die beide nicht zusammen an den gleichen Parteifäden hängen.
Notwendig ist in Südtirol eine saubere Trennung von Verwaltung und Politik. Eines der besten Mittel dafür ist so ungefähr die Halbierung des gesamten Beamtenapparates.
Notwendig ist in Südtirol eine klare Öffnung und und Bejahung des europäischen Wettbewerbs. Südtirol soll und muß kulturell eigenständig bleiben. Und gerade deshalb muß es als Schlüsselland zwischen Nord und Süd einige lokale Privilegien abbauen. Der Proporz in der öffentlichen Verwaltung ist so zu reformieren, dass die besten qualifizierten Kräfte aus allen europäischen Ländern eine Chance haben, ihren Beruf in Südtirol auszuüben. Dazu gehört eine Wirtschaftspolitik, die den Zuzug von Humankapital fördert und ihren Standesdünkel wegwirft.
Notwendig für Südtirol ist eine völlige Neugestaltung der Agrarpolitik. Die Landwirtschaft ist Grundpfeiler unserer Tiroler Kultur. Allein mit Straßenbau werden wir sie nicht ins 21. Jahrhundert hinüberretten. Radikales Umdenken gilt auch für die Tourismusindustrie, die vor einer im Grunde produktiven Strukturkrise steht.
Moral ist ein Luxus, den wir uns verdienen
Vor allem aber kann sich die Wahl zum demokratischen Vertreter nur der Kandidat verdienen, der sich in der Tat und mit seiner ganzen Person GEGEN unlautere Vorteile, gegen Ämterhäufung, gegen Postenwirtschaft und sich FÜR eine klare, einklagbare Verantwortung in der Politik , dem Geschäft des Gemeinwohls, verwendet. Wie hoch dabei der Maßstab angelegt werden soll, mag jeder für sich entscheiden. Aber üben Sie keine falsche Großzügigkeit!
Denn es muß jedem gesagt sein: Wir alle riskieren – und zwar viel schneller als man meinen könnte – den gewonnenen Wohlstand und sozialen Frieden zu verlieren, wenn wir als Wähler nicht auf dem scheinbaren Luxus der absoluten moralischen Integrität und Klarheit unserer politischen Vertreter bestehen. Warum halten sich unfähige Politiker in der Regel? Weil Wähler wegen vorergründig wichtiger Einzelinteressen ihre Stimme mit einem Achselzucken zu oft an Leute vergeben, von denen sie selbst meinen, daß sie das Pulver nicht wert sind (aber sie sitzen halt an der Stelle, wo ich mir was holen kann).
Moralische Integrität schließt praktischen Nutzen nicht aus. Aber praktischer Nutzen ohne moralische Integrität führt zwangsläufig in Sackgassen, die alle teures Geld kosten – oder mehr. Was die Zeiten beweisen.
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Erstmals veröffentlicht in:
LANANER GEMEINDEBLATT, September 1993 – Seiten 31 und 34, Rubrik: ‚FORUM‘ Die freie Seite für die freie Meinung. Von Georg Dekas