Eine autobiographische Erzählung über den Wehrdienst in Italien.
Die Vorsprache des Onkels
1971 war ich nach Schweden ausgewandert. Ein Vorteil: Ich brauchte nicht zum Militär einrücken. Genauer, zum zwölfmonatigen Wehrdienst in Italien, der «leva» – im Volksmund die «naia» genannt. Als ich fünf Jahre später wieder in die Heimat zurückgekehrt war, dauerte es nicht lange, bis der grüne Brief des Militärdistrikts Bozen zugestellt wurde. Einrücken, hieß es.
Da ward die Hilfe des Onkels dringend gefragt und gütigst erteilt. Im Gefolge des hochrangigen Politikers ging es in ein grau in grau verwittertes Baugeviert mit vergitterten Fenstern, Wachtposten und weiten Kasernenhöfen im Innern, dem «Distretto Militare» in Bozen. In unserem Haslach, das hier bei den Italienern ausschließlich Oltradige hieß. Das Gespräch mit dem zuständigen Offizier verlief in vertrauter, durchaus nicht ungewöhnlicher oder verschwörerischer Form. Es gehörte wohl zum Geschäft des hohen Repräsentanten, für seine Schäfchen einzutreten, und es schein zum guten Ton der italienischen Militärbehörde zu gehören, die Bitte eines Würdenträgers nicht rundweg abzuschlagen.
Die Rekommendierten
Dieser Ort, das «Distretto», sollte meine Bestimmung sein, dank der «Raccomandata», der Empfehlung, seitens des hilfreichen und höchst angesehenen Onkels. Ich gehörte damit zu den zahlreichen Auserlesenen der jeweiligen Jahrgänge in ganz Italien, die aufgrund von Vitamin B wie Beziehung entweder den Militärdienst gar nicht antreten oder auf angenehme, ungefährliche Posten ‚geschoben‘ werden. Diese ‚höhere’ Art der Schiebung fiel nicht gar so auf, weil es in den meisten Fällen einer «Empfehlung» um den menschlich nachvollziehbaren Wunsch ging, den Wehrdienst in der Nähe zu Familie und Freundin, oder in der eigenen Heimat ableisten zu dürfen. Das war nämlich alles andere als selbstverständlich.
Italien war ja ein junger Nationalstaat, gerade mal 110 Jahre alt, und der Wehrdienst war ein Mittel, die Völker der Halbinsel ordentlich zu durchmischen. So wurden Sizilianer, Sarden, Kalabreser und Neapolitaner nach Norden verlegt und umgekehrt die Veneter, Lombarden und Piemonteser nach Süden. Damit war die Militärzeit eine Zeit fern von Zuhause.
Die Gavetta
Die Südtiroler Jahrgänge vor mir hatten noch harte Soldatenjahre in den entlegensten Südregionen durchmachen müssen. Für viele Bergbauernbuben war das ein arger Sprach- und Kulturschock. Ihre Andersheit haben sie in unzähligen «gavettoni» zu spüren bekommen und büßen müssen. La «gavetta» ist der Essnapf, den jeder italienische Rekrut als erstes ausgehändigt bekommt. Von dem haben die wilden Scherze und Demütigungen der Neuankömmlinge ihren Namen «gavettone» bekommen. Aber wenigstens haben die Tiroler «Buabm» in der Fremde ordentlich und reichlich zu essen gekriegt. Erst durch die unermüdlichen Bemühungen unserer politischen Spitzenvertreter, wie mein Onkel einer war, gelang es nach und nach, die «Buabm» nach dem Ausbildungsgang in heimatlichen Tälern zu halten.
Die Zeit gibt es nicht
Als rekommendierter, zukünftiger Mitarbeiter im Bozner Militärdistrikt wurde ich nicht den italienischen Gebirgsjägern, den «Alpini», zugeteilt, sondern der «Fanteria», der Infanterie. Nach der Einkleidung war ich ein «Fante» mit schief sitzender olivgrüner Baskenmütze. Das CAR, so nannte man die Rekruten-Ausbildung im Militär-Jargon, hatte ich am schönen Comer See zu absolvieren. In vollem Dieselnebel brachte mich ein Militärlastwagen zum Bozner Bahnhof – ja, mich ganz allein. Am Seiteneingang nahe der Gepäckabteilung wurde ich abgeladen. Bis zur Abfahrt des Zuges dauerte es noch drei Stunden. Also richtete ich mein schweres Gepäck zurecht und setzte mich im Freien auf die Stufen zur Rittner Straße hin. Die Junisonne brannte heiß, und die Ausgehuniform tat das ihre. Während ich allein so da saß und die Minuten so zäh wie nie zuvor verrannten, lernte ich die erste Lektion der Naia: Frage nie nach der Zeit. Die Zeit gab es nicht mehr. Es gab nur die Sonne, die unverrückbar ihre Himmelsbahn zog.
Reise Retro
Selbst als ich dann endlich im Zug saß, hatte mich die Zeit vergessen. Ich hatte einen Waggon bestiegen, der noch aus den 1920er Jahren stammte. Kaffeebraun, jedes Abteil in angedeuteter Kutschenform für sich gebaut, die Bänke aus Holz und dicke braune Vorhänge an den getrübten Scheiben. Dieser Waggon wurde in Verona und dann in Mailand vom jeweiligen Regionalzug abgehängt, und fuhr die letzten Kilometer nach Como als Lokalzug. Die umständlichen Schiebemanöver an den Knotenpunkten, die unendliche Abfolge von Haltestellen mit quietschenden Bremsabfolgen und ruckelnden Anfahrtsbewegungen waren eine unbezwingbare Herausforderung für meinen rebellierenden nordisch-protestantischen Geist. Meine bürgerliche Eilfertigkeit, die eingefleischte Hast und Ungeduld war wie ein flatterndes Huhn in der Faust eines Schlächters, der weder Zeit noch Gesicht kannte.
Als ich nach zwölf geschlagenen Monaten mit dem «Congedo» in der Hand das Distrikt verließ, hatte die orientalische Gleichgültigkeit der Militärzeit ganz von mir Besitz ergriffen. Ich konnte auch fünf Stunden lang, nein, ganze Tage lang, auf irgendetwas einfach warten und warten, ohne dass es irgendwo in mir gezappelt und geläutet hätte.
Die Asterix-Kaserne
Comer See. Eine lebende Postkarte. Militär, das konnte es an einem so wunderbar schönen Ort gar nicht geben. In der Tat war meine Kaserne auch gar nicht real. Sie musste aus einem Asterix-Heft geschnitten und als virtuelles Hologramm in die Ausläufer der Stadt hingestellt worden sein. Ein klobiger Ziegelbau mit großem, rechteckigen Innenhof, gerade zwei Stockwerke hoch. Die Balustraden schauten auf den mit gestampftem Sand belegten Hof, und deren Holzgeländer hatten genau jenes römische Kreuzmuster, das im Heft «Asterix bei den Römern» zu sehen ist. Nun also war ich Asterix. Halt ohne Zaubertrank. Aber mit den Legionären von einst um mich herum. Der eine baumlang, der andere dick, der dritte ein Wiesel, der vierte ein Schrank. Zusammen bildeten wir den «Plotone», die kleinste Marscheinheit. Die meiste Zeit zwischen den Mahlzeiten und dem Schlafen verbrachten wir sitzend im Schatten der Akazien, die als Zierbäume an allen vier Seiten des Innenhofes standen. Warum auch nicht? Die Zeit, die gab es ja nicht.
Der Deutsche
Von Mal zu Mal tauchte unser Leutnant auf, der «tenente». Schneidiges Oberlippenbärtchen, neapolitanischer Akzent, südländischer Elan. Mit «un, due, un, due» versuchte er, seinen Trupp an das andere Ende des Hofes zu peitschen, nachdem er die zusammengewürfelten, dauermüden Legionäre endlich dazu gebracht hatte, sich aufzurappeln. «Un, due, un due, forza!» Doch, der «Plotone» machte seinem Namen alle Ehre: Plot, plot-tero-tot, Tra-ta-ta-tap machte es. Keine Idee von einem getakteten, flotten Schritt und Tritt. «Guardate il tedesco come marcia!» brüllte der Leutnant in der Mitte des Hofes, schaut ihn euch an, den Deutschen, wie der marschiert! Er meinte mich. Es war Cartoon.
Die Gefechtsübung
Am Ende war es dann doch ein bisschen Militär. Aber nur für zwei Tage. An dem einen wurden wir mit Lastwagen auf einen wüstenähnlichen Platz gekarrt, wo jeder von uns mit einem amerikanischen Gewehr aus dem Zweiten Weltkrieg, dem «Garand», 12 Schuss auf eine Scheibe abgeben durfte. An dem zweiten der zwei kriegerischen Tage musste der «Plotone» doch tatsächlich zu Fuß eine bewaldete Höhe erklimmen. Mit traumhafter Aussicht auf den See, dahinter die nahe Schweiz. Dort oben erklärte uns der Tenente im Gras sitzend die Flugbahn von Artilleriegeschossen. Etwas abseits von uns hatte ein olivgrüner LKW tatsächlich eine dieser mächtigen, neuzeitlichen Wurfschleudern aus Eisen abgeladen. Der Tenente nannte das Ding Mörser, was wir römischen Legionäre ja nicht wissen konnten. Aber den Zaubertrank hatten wir kennen gelernt. Schon am dritten Tag in der virtuellen Kaserne wurden wir unbesiegbar gemacht. Der Militärarzt hatte uns jene berüchtigte Spritze in die Brust gerammt, von der alle erzählt hatten. Es blieb die einzige schmerzhafte Berührung mit einem spitzen Metall in der ganzen Militärzeit.
Der Maurer
Schon in den ersten Tagen, nach einem der vielen guten und reichlichen Essen, dem «rancio» (kommt nicht von ‚Ranzen‘ oder ‚ranzig‘, sondern von ‚in Rang und Glied anstehen‘), kam mir im Stiegenhaus Mauro entgegen. Er war in Zivil und bereit für den abendlichen Freigang, die «libera uscita». Wie denn das Essen gewesen sei, fragte mich der bullige, blutjunge Bauarbeiter aus Bari in einem für mich fast unverständlichen, apulischen Slang und verzog schon mal das Gesicht. «Gut», antwortete ich. «Che schiffezza!», so ein Graus, meinte er und zog die Mundwinkel noch tiefer nach unten. Er würde jetzt mit Kommilitonen, «ragazzi», sagt er, in die Stadt auf eine Pizza gehen; wenigstens einmal am Tag etwas Ordentliches, «qualcosa di decente». Als alter Schwede verstand ich die Welt nicht. Nach entbehrungsreichen Jahren im Norden bei Matjes und Potatis dünkte mich der italienische Barras ein Schlaraffenland. Bei all diesen duftenden Bergen von Pasta, Risotto, Fleisch, Fisch, Gemüse und Obst, wie konnte da jemand nur die Nase rümpfen? Gar ein einfacher Kerl wie dieser Maurer? Und sich dem Italian Junkfood hingeben? Als ich Mauro in den nächsten Wochen fast immer in der Kantine sah, begriff ich es langsam. Es ging um Status. Er hatte im ersten Überschwang den «Nordisti» zeigen wollen, dass er, der «Terrone», nicht auf der Brennsuppn daher gschwommen kam. Doch das karge Tagegeld eines gemeinen Fanten setzte seinen Höhenflügen ein Ende.
Der Schwur
Gegen Ende des Ausbildungsmonats in Como erhöhte sich der Pulsschlag im Ploton. Das Marschieren wurde häufiger, wenn auch nicht besser, und unser Napolitaner-Leutnant wurde immer aufgekratzter. Der Tag des «giuramento» nahte, der Tag des Eides auf die Republik, den wir Rekruten in einer großen Feier zu leisten hatten. «Wer aus euren Familien wird denn kommen?», fragte er aufgeregt und erwartungsvoll. Die Rückmeldungen waren vielversprechend. Bis er auf mich kam. Nein, von mir kommt niemand. Als wäre er gegen eine unsichtbare Glaswand gerannt. «Come mai?» Wie denn das? Unbeholfen versuchte ich ihm zu erklären, dass wir es mit dem italienischen Militär nicht so hätten. Ich verzichtete darauf, zu sagen, dass mein Großvater Hauptmann der Kaiserjäger gewesen war. Und niemals hätte ich gewagt, zu sagen, dass mein Vater – als Fahrer und Dolmetscher in einem Nachschub-Bataillon in Oberitalien – sogar das SS-Abzeichen trug. Und dass ich der erste in meiner Familie war, der italienischen Militärdienst zu leisten hatte. Meine Antwort traf ihn dennoch wie eine Ohrfeige. «Ti sbatto dentro!», ich haue dich ins Loch, erhitzte sich der Tenente, aber schnell war der nächste dran und das Zwischenspiel mit dem «tedesco» war vergessen. Mit mir war in der Tat kein Staat zu machen. Denn mitten in der pompösen Zeremonie der Vereidigung wankte plötzlich der Nebenmann und drohte, ohnmächtig zu Boden zu gehen. Die Julihitze, die Aufregung, das Berührtsein. Ich gab meine Säulenhaltung auf, stützte ihn mit einem Arm und hatte alle Mühe, das fallende Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett seitlich wegzustoßen, damit es keinen Schaden anrichtete. Wieder einmal war es nichts mit Glanz und Gloria.
Der Capitano
Im Juli 1976 war ich dann wieder zurück in Bozen, im «Distretto», Abteilung Pensionen. Seit ich die Schwelle dieser neuen, alten Welt überschritten hatte, war mein eigenes Jahrhundert verschwunden. Das galt auch für das Büro, dem ich als Schreibkraft zugeteilt worden war. Was heißt Büro? Eine Schreibstube war es. Nicht geräumig, aber mit hoher Decke. An allen vier Wänden, von denen ein staubiges Fenster ausgespart war, türmten sich schwere Orner aus Pappe mit unzähligen halb vergilbten Papieren. Es herrschte ein fast schon ehrwürdiges Halbdunkel zu jeder Tageszeit. Der Raum wurde fast vollständig vom Schreibtisch von Capitano Medda eingenommen. Davor, angestückt, ein Katzentisch mit mir als Skribent. Wäre da nicht die Uniform gewesen und der abgelegte Alpinihut des Offiziers auf dem Schreibtisch mit den goldenen Borten und der weißen Feder, die der Capitano stets gegen den Strich zu kämmen pflegte als Zeichen seiner inneren Rebellion, dann hätte ich mich in einem Kloster gefühlt, eine unbestimmte Zeit vor meiner Zeit. Hauptmann Medda war ein äußerst liebenswerter, angenehm verrückter Kerl. Ein Sarde von echtem Schrot und Korn. Sesshaft in Meran, in einer der schönen, großen Jugenstilhäuser aus der Kaiserzeit.
Fante Fluido
Die untergegangene Donaumonarchie und ihre herausragenden Figuren waren Gegenstand endloser Gespräche. Besonders der jung gestorbene, genial verrückte Otto Weininger hatte es dem sardischen Haudegen angetan mit seiner Theorie, dass es kein festgefügtes Männliches und Weibliches gibt, und dass jeder Mensch männliche und weibliche Anteile in unterschiedlicher Menge in sich habe; dass also Geschlecht ein Fluidum sei.
Es sollte noch ein halbes Jahrhundert ins Land gehen, bis die Schreibtischgespräche des Capitano in der öden Kaserne an der Via Claudia Augusta in Bozen zum hippen Gegenstand der feministischen Feuilletons in Europa werden sollten. Weininger ein Frauenfeind? Gar Antisemit? In jenem fernen Jahrhundert, das mein Capitano und ich, sein Fante, in unserem Skriptorium verbrachten, war das überhaupt noch keine Kategorie.
La Vittoria
Im November dann wurde Medda jäh aus seinen Betrachtungen gerissen. Er legte sich die blaue Schärpe um, rupfte noch einmal tüchtig seine weiße Feder am Alpini-Hut, nahm den Säbel und schritt – ich nach ihm – in den ersten Stock hinauf, wo vor der Marmorbüste eines Helden ein Kranz niedergelegt war, die Ehrenwache mit aufgepflanztem Bajonett stramm stand und sich alle Offziere und die wenigen Manschaften des Distrikts versammelt hatten.
Vom anderen Ende der Stadt, vom Stab des vierten Alpen-Armee-Korps, war ein ganz großer und wichtiger Oberst gekommen, mit Spitzbart und gravitätischer Miene und einer weißen, glänzenden, glatten Feder auf seinem Alpinihut. Es war der 4. November. Und so wie an jedem 4. November, dem Tag der «Vittoria», wurde hier wie in ganz Italien das pathetische Bulletin von Cadorna über Flucht der Österreicher nach dem Waffenstillstand in der Villa Giusti im November 1918 verlesen. Capitano Medda schaute ziemlich abwesend drein – ich wahrscheinlich noch mehr.
Der Maresciallo
Das Leben in einer italienischen Kaserne wird vom Essen getaktet. Über das Essen befiehlt der Maresciallo. Folglich ist der Maresciallo zwar die unterste, aber auch die wichtigste Offizierscharge im italienischen Heer. Der italische ‚Marschall‘ tätigt die Einkäufe, bestimmt das Menü, befehligt die Küchentruppe …und ist korrupt. Auf eine liebenswürdige und allseits bekannte Weise. Wenn am Vormittag der Jeep die Großkartons Eier beim Engros abholt, machen des Maresciallos Männer wie selbstverständlich einen kleinen Umweg zur Wohnung des «Colonello» und geben etwas ab. «Di niente, Signora! Si figuri!», sagt später der Maresciallo und weiß, dass seine Stellung noch unangreifbarer geworden ist, und seine Beliebtheit universell ist. Man hilft einander, wo man kann, «che male c’è?», ist doch nicht schlimm, ist ganz natürlich. Weniger natürlich waren da schon die Essgänge von uns Nimmersatten. Den wässrigen Milchkaffe des «rancio» ließen die meisten stehen und wandten sich frühmorgens dem «spaccio» zu, dem Kasernenladen, der eine veritable Bar und Kneipe war. Dort gab es dann «Cappuccino» und «Merendine» von Ferrero für ein Spottgeld. Aber um zehn war es dann wieder so weit. Es warteten ein mächtiges Salami-Brot und ein «Spritz». Um eins dann der «pranzo». Die Mannschaftskantine hatte große Maresciallo-Karte: zwei bis drei «Primi» durften nie fehlen, zwei Hauptgänge waren die Regel, zum Nachtisch Süßes und Obst nach Jahreszeit. Ja, und Wein zum Trinken. Süffigen Wein aus dem Veneto. Der Maresciallo dachte an alles. Wiederum im «spaccio» wurde das Mahl abgeschlossen mit einem «caffè», und nicht selten mit einem «caffè corretto», dem Espresso mit einem guten Schuss klaren Grappa – es war der Zaubertrank der Alpini. So wollte es die Tradition des Sieges von 1918.
Die Kameraden
Die Handvoll Südtiroler unter den «Fanti» im Distrikt waren zumeist ebensolche «Imboscati» wie der Erzähler. Bosco ist der Wald, und «imboscato» ist einer, der sich im Gebüsch versteckt. So nannte man die Söhnchen, denen es gelungen war, ihren Militärdienst auf die eine oder andere Weise ungefährlich zu machen. Da gab es Theo, der Fahrer des Generals wurde, obwohl er kaum einen Wagen fahren konnte. Ganz stolz erzählt er, wie er vergeblich den Schalter für den Blinker gesucht hatte, und schließlich die Hand winkend aus dem Fenster hielt, um anzuzeigen, dass er jetzt links abbiegen würde. Oder Oswald, der Grandseigneur aus dem Passeiertal. Er trug einen Familiennamen, der in Südtirol recht häufig ist. So kam es, dass ein italienischer Kommilitone staunend feststellte, dass auf der Claudia Augusta Straße des öfteren Lastwagen verkehrten, die allesamt in großen Lettern den Namen von Oswald führten. «Ah,» pflegte Oswald mit einer wegwerfenden Handbewegung zu sagen, «sono di mio zio», sie gehören bloß meinem Onkel. Der blitzgescheite Bauernbub mit den ausgesuchten Manieren wurde später Chef einer Hotelkette in Singapur. So wie auch andere rekommendierte Jungs später Marksteine im öffentlichen Leben wurden.
W la figa
Den krassen Gegensatz dazu bildeten gar einige Kameraden aus Italien, ich meine, dem wahren Italien. «Ce l’hai, la figa?» Ich musste mich erst daran gewöhnen, dass Mädchen, Freundinnen, Verlobte, zuerst und überhaupt einfach nur «la figa» waren. Sie meinten das gar nicht bös oder abschätzig. Es war ihre Sprache. Schwer zu ertragen. Nun verstand ich Wandmalereien besser, auf denen „W la figa“ stand, Viva la figa.
Einer von diesen Jungs aus Oberitalien setzte mich allerdings platt auf den Hintern. Als ich mich bei ihm über die Zeitvergeudung und Sinnlosigkeit unserer «Naia» beklagte und vorschlug, die «Leva» abzuschaffen, in der sicheren Annahme, seine ungeteilte Zustimmung zu bekommen, sagte er ohne jedes Zögern: «Nein, die Naia muss bleiben. Jetzt habe ich sie machen müssen, dann sollen sie auch die anderen kosten.» Hätte ich das Militär nicht gemacht, wäre mir das Eingeweide-Denken des Volkes völlig verborgen geblieben und ich hätte meine humanistische Bildung für das Selbstverständlichste der Welt gehalten.
Die Akte Magnago
Zurück in meiner Schreibstube bei Käptn Medda, der die meiste Zeit nicht da war, konnte ich mich ungestört in die Akten vertiefen. Ich war im Pensionsamt. Dort wo auch die Rentengesuche ehemaliger Wehrmachtsangehöriger lagen. Ich hatte halb Südtirol vor mir liegen. Tagelang studierte ich die Wehrbücher mit den Einträgen der Feldeinsätze, Fotografien, die ärztlichen Befunde aus Lazaretten und Kriegsgefangenenlagern. Aus dem toten Papier erwuchs brandheiß lebende Geschichte. Der Abessinienkrieg. Die Option. Der Russlandfeldzug. Da gab es Buben wie den Rosenwirt aus Schlanders, der von 1935 weg geschlagene zehn Jahre im Krieg war, zuerst auf italienischer, dann auf deutscher Seite. Die Akte unseres hochverehrten Landeshauptmannes Dr. Silvius Magnago aber hatte es mir am meisten angetan.
Im Büro des Duce
Öfters wurde ich in die große Schreibstube des «Ufficio di leva» zur Aushilfe bestellt. Dort bearbeiteten eine Handvoll beamtete Zivilisten die Einberufungen der Tauglichen. Viel interssanter als das Abschreiben und Ausfüllen und die eintönigen, dumpfen Stempelschläge waren diese Heeresangestellten. Einer von ihnen hatte mich besonders durch seine hingebungsvolle Verehrung für den Duce beeindruckt, die er offen und mit Nachdruck zur Kenntnis brachte. Der Mann war aus dem tiefen Süden, ein echter Kampaner, so breit wie groß, einen mords Schädel, weißhaarig, mit herabhängenden, pechschwarzen «baffi», einem Schnauzer, der Pancho Villa alle Ehre gemacht hätte. Mit donnernder Stimme und funkelnden Augen zählte er auf, was unter dem Duce alles großartig gewesen war und alles sowieso viel besser als heute. Und um kenntlich zu machen, dass es sich keineswegs um Nostalgie und noch weniger um ein heimliches Tuscheln ging, fügte er hinzu: «Ich fordere jeden heraus, mir das Gegenteil zu beweisen». Sein Kollege, ein stiller, kleiner Herr, vertiefte derweil seine Nase in die Papiere und schwieg. Sicher hatte er solcherlei Fanfaren öfter zu ertragen.
Die Parà
Während der unterfertigte Fante in seinem Distrikt mit den surrealen Asterix-Zügen Tag um Tag seiner 12 Monate abspult, sind auf dem zweiten Hof echte Soldaten zu sehen. Alpini-Fallschirmjäger. Parà werden sie genannt, die Kurzform von «paracadutisti», Fallschirmspringer. Zack Zack, antreten, in Formation, mit Waffe und Sack. Weg mit LKWs zum Flugplatz. Am Abend zurück. Zack. Zack. Kein blöder Scherz. Kein Lungern. Uns Schreibhansel und die Burschen trennen physisch nicht einmal 50 Meter, aber es sind zwei gegenteilige Welten. Gut, dass Italien auch noch ein Militär hat, das diesen Namen verdient. Später habe ich einen Landsmann kennengelernt, der bei genau dieser Staffel dabei war. Er ist sein ganzes Leben lang ein Parà geblieben, auch wenn er nach dem Wehrdienst die Förster-Uniform des Landes trug.
Der Rückblick
Im Abstand eines Lebensalters kann ich sagen, dass ich durch den Wehrdienst nicht ein besserer Staatsbürger und meine beiden Söhne, die nicht mehr unter die Wehrpflicht fielen, sicher keine schlechteren Staatsbürger geworden sind.
Allerdings finde ich es richtig, dass junge Menschen Dienst an der Gemeinschaft leisten. Alle. Auch Frauen. Nicht nur, aber vor allem an der Waffe. Ganz natürlich hat mir die Naia gezeigt, dass ich und meinesgleichen im italienischen Staats- und Wehrverband die Aliens sind, und dass wir in unseren angestammten Kulturkreis weit besser hinein passen. Aber die Würfel sind leider gefallen. Gerade durch die Einblicke in die Militär-Unterlagen meiner Väter-Generation im Pensionsamt des «Distretto Militare» muss ich als deutsch fühlender Europäer umso mehr die Mitverantwortung für den Stand der Dinge annehmen. Der Friede ist ein hohes Gut. Dennoch und gerade deswegen ist der allgemeine Wehrdienst für jede Nation von großer Bedeutung – für kleine Nationen noch viel mehr als für große. Die Schweiz macht es vor. Genauso bodenständig und bürgernahe sollte der Wehrdienst auch bei uns sein. Wer weiß, ob und in welcher Armee meine Enkelsöhne dienen werden?
Trotz ihrer offensichtlichen Unvollkommenheit ist meine italienische «Naia» in den 1970er Jahren nicht wertlos gewesen. Und allemal ein beredtes Zeugnis für die einzigartige Menschlichkeit der Italiener, die ich immer zu schätzen wissen werde (ohne sie für bessere Menschen zu halten).
Ganz unabhängig von militärischen Fragen bedeutet der allgemeine Wehrdienst, so wie ich ihn erlebt habe, das Zusammenkommen mit Leuten aus anderen Schichten, von deren Art man sonst nie eine Ahnung bekommen hätte. Mir hat das bei der richtigen Einschätzung von politischen Strömungen und Großereignissen, aber auch in meiner eigenen Herzensbildung sehr geholfen. Und schließlich ist es ein gutes Gefühl, nicht nur für sich allein gelebt zu haben.